„Gratismentalität“ beim Verkehr

9 € Ticket Nachfolge – Lindner und die „Gratismentalität“

Von Welt und co. gehypte Studien haben ergeben, dass das mehr Verkehr erzeugt hat. Anders gesagt: Es hat (laut Studie) nur in geringerem Maße Verkehr von der Straße weg verlagert und eher Verkehr erzeugt, der vorher nicht da war. (Warum das nicht die ganze Wahrheit ist, siehe * am Ende)

Dabei wird natürlich suggeriert, dass das ganz schlimm wäre. Wegen der bösen „Gratismentalität.“

Ich würde erst mal sagen: Ach schau mal, da gilt der Zusammenhang plötzlich. Mehr günstiges Angebot erzeugt mehr Verkehr. Bemerkenswerterweise gilt dieser Zusammenhang bei Straßen und Autobahnneubauten nie. Die sollen immer nur „Stau abbauen“ und „Lückenschluss bilden“. Aber zusätzlichen Verkehr erzeugen die angeblich niemals! Obwohl hier ja die von Lindner beschworene „Gratismentalität“ tatsächlich sogar noch mehr gilt. Denn Straßen kosten nicht mal 9 EUR, wenn man sie befährt. Die sind für Otto-Normalbenziner komplett kostenlos.

Tun wir doch einmal so als wäre der günstige ÖPNV ein Autobahnneubau!

Dann würde die Welt plötzlich annehmen, dass der zusätzliche Verkehr, der durch das 9-Euro-Ticket entstanden ist, unvermeidlich war. Der wäre gleichermaßen eine Art göttlicher Mobilitätsbedarf, den zu bedienen die höchste und edelste Aufgabe des deutschen Staatswesens ist.
Man könnte analog zum Straßenbau sogar annehmen, dass ein guter & günstiger ÖPNV die Wirtschaft und die Provinz fördert, weil er gerade die momentan so wichtigen Arbeitskräfte günstiger mobil macht. Dass er den Tourismus in Deutschland fördert, denn die Leute fahren ja an einen anderen Ort und lassen da Geld!
Ganze Firmen würden sich wegen des günstigen ÖPNVs ansiedeln und der würde weiter ausgebaut werden, weil wir auch den Verkehr von Skandinavien von, Osten und Westen durch Deutschland besser durchleiten würden. Denn der ist ja gottgegeben.
Und anders als beim Straßenbau könnte man annehmen, dass das 9-Euro-Ticket vor allem auch Menschen mobil macht, die sonst kaum rauskommen, weil ihnen dafür das Geld fehlt. Das ist doch toll. Was ist da das Problem und was spricht gegen ein etwas teureres Nachfolgeticket?
Man kann doch, um den Kreis zu schließen, logisch nicht beim Straßenbau immer so tun, als würde man nur dem göttlichen Mobilitätsbedarf der Menschen folgen, aber beim ÖPNV ist genau dieser Bedarf plötzlich böse? Was ist das denn für eine absurde Doppellogik?
Und klar: Damit ein günstiges Nachfolgeticket für das 9-Euro-Ticket auch für den Klimaschutz ein Erfolg wird, muss man zu dem Pullfaktor noch einen Pushfaktor generieren. Denn genau hier wirds jetzt ja interessant. Beispiele wie die Schweiz und auch die Niederlande zeigen: Der Mensch ist ein sehr, sehr bequemes und gieriges Wesen. Am Ende nimmt er gerne „Einmal Alles!“. (Siehe „Gratismentalität“)
D.h. am Ende fährt er lieber und häufiger ÖPNV, wenn der günstig und zuverlässig ist. Er fährt auch gerne E-Bike. ABER er fährt auch weiter Auto. Und da häufig die größtmögliche Karre, die er sich leisten kann. (Wer es mir nicht glauben will, fahre in die Schweiz)

Es führt also aus Klimaschutzsicht wenig daran vorbei, das Autofahren auch ein wenig unbequem zu machen. ABER eben im Gleichschritt mit einem Ausbau und der Vergünstigung von ÖPNV für Langstrecken und Fahrrad für Kurzstrecken.

In manchen Gegenden war das 9-Euro-Ticket gerade für Pendler eine Zumutung. Es hat gnadenlos aufgezeigt wie überlastet der ÖPNV wäre, wenn wirklich mehr mitfahren würden. Daher muss eine Nachfolgeregelung auch Wege zur Finanzierung dieses Ausbaus aufzeigen und zumindest die unsinnigsten Fahrten verhindern, die nur passieren, weil es umsonst ist.

Ich bin aber riesiger Fan davon, Dinge bezahlbar UND gutzumachen. Daher muss eine Nachfolgeregelung zwingend deutlich günstiger als die meisten Monatstickets in den Verkehrsverbünden sein (sonst wird sie niemand nutzen) und sie muss mit der Machete durch das absurde deutsche Tarifwirrwarr, das Menschen eher abschreckt als etwas anderes.

Und man muss es so sagen: Da ist der Vorschlag der Grünen 49 € für ein bundesweites und 29 für ein Regio-Ticket anzusetzen und dafür das komplett aus der Zeit gefallene Dienstwagenprivileg abzuschaffen, so schön, den würde ich mir gerne als gute Politik in die Realität nageln.

Ja, wenn, wenn da nicht Lindner und seine angebliche „Gratismentalität“ wäre. Und ich würde an dieser Stelle sagen:

„Christian, man sollte nicht von sich auf andere schließen – obwohl du weißt als guter FDPler und Porschefan natürlich, dass Gratismentalität wirklich gar nicht geht. Denn wenn man Geld aus der Autolobby bekommt, dann hat man dafür auch zwingend eine Gegenleistung zu erbringen. Nicht wahr?“


Ergänzungen

Warum sage ich, dass die Benutzung der Straßen für Autos gratis ist, man zahlt doch KFZ-Steuer und co.?

– ja klar, aber das sind alles allgemeine Steuern, die in den Staatshaushalt gehen und nicht an die konkrete Benutzung gekoppelt sind. Und das ist eben genau das Problem. Wir haben im Grunde alle eine Straßenflatrate, egal, wie sehr wir sie nutzen. Zusätzlich ist es so, dass die Steuern NICHT reichen, um Neubau, Instandsetzung und externe Kosten des Straßenverkehrs zu bezahlen.

* Warum ist solch eine Studie mit Vorsicht zu genießen?

– Wir wissen einerseits, dass zum ersten Mal seit Ewigkeiten ohne weitere externe Einflüsse (wie z.B. Corona) die Stauintensität in vielen Städten seit Einführung des 9-Euro-Tickets zurückgegangen ist (Vor allem z.B. in Hamburg). Das ist ein Hinweis darauf, dass das 9-Euro-Ticket nicht nur neue Verkehre erzeugt, sondern auch Autoverkehr reduziert. Insofern wirkt das schon ein wenig fischig, wenn es das laut der neuen Studie angeblich nicht tut. Zudem ist es natürlich klar, dass ein 9-Euro-Ticket in der URLAUBSZEIT und bei einem sonnigen und heißen Sommer (mal wieder…) auch erhebliche zusätzliche Urlaubsverkehre erzeugt. Das ist EXAKT die Zeit des Jahres, in der Leute Zeit dafür haben und dann eben einfach mal in die Bahn springen, um zum Meer zu kommen. Das wäre in anderen Jahreszeiten sehr anders. Auch hier wird also das Ergebnis verfälscht.

Autor: Jörn-Peter Boll